Der Nachtindianer
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Der Nachtindianer
"Wir haben noch ganz andere Möglichkeiten, unseren Willen durchzusetzen", sagte der Häuptlingssohn der Nachtindianer, nachdem er die Weihnachtsmänner abgestaubt hatte.
Diese schimpften und fluchten zwar, als sie enteignet waren, und verloren die Köpfe, aber der Nachtindianer sprach zu ihnen:
"Freunde, der Eigentumsbegriff muss völlig neu definiert werden. Mein, dein, unser, euer, sind Worte, die auf der pragmatischen Sinnenebene durchaus ihre begrenzte Gültigkeit haben, jedoch in der phänomenalen Wirklichkeit, in die wir jetzt eintreten, ihren Sinn verlieren. Wer will ernsthaft behaupten, das ist mein Baum, das sind meine Wurzeln, meine Blätter, das ist mein Chlorophyll, mein Zucker, mein Sonnenlicht, meine Stärke? Oder wer will guten Gewissens sagen, das ist meine Frau, mein Mann, mein Kind, mein Magen, mein Darm, meine Lunge, wenn ihm die Luft nicht gehört? Wer wagt zu behaupten, dass das Hirn ihm gehört oder gar seine Gedanken? Wem gehört überhaupt etwas? Wer besitzt sich selbst?
Der Eigentumsbegriff ist so tief verwurzelt wie die Fehlidentifikation mit der zeitlich begrenzten Nahrungs- und Nervenschale und hat nur einen einzigen Sinn, nämlich die durch ihn geschaffenen materiellen und kulturellen Werte, die letztlich allen zugute kommen, vor dem Zugriff jener zu schützen, die nicht imstande waren, sie zu entwickeln oder es nicht wollten und die nun, da die Werte da sind, auf den Geschmack kommen und sie sich mit Gewalt anzueignen trachten.
Werden die so entstandenen Werte aber nicht zum Wohle der Entwicklung aller eingesetzt, wie es häufig, wenn nicht sogar ausschließlich der Fall ist, sondern von einzelnen oder Gruppen missbraucht zur Befriedigung eigener Interessen, erlischt sofort das in sich sowieso irrige Recht auf Besitz, und er darf wieder fortgenommen werden von jedem, der sich dazu in der Lage fühlt, ihn seiner ursprünglichen Bestimmung zuzuführen. Denn stets ist alles für alle da, natürlich nur innerhalb der mystischen Bedeutung, die in einer kontinuierlichen Entwicklung zu Höherem zu suchen ist."
"Das ist ein Ding", sagten die Weihnachtsmänner. Keinem gehört etwas, weil er es nicht besitzen kann, und er besäße es nur, wenn er es selbst erschaffen hätte, und so kann er bestenfalls des Besitzes Verwalter sein, aber auch nur dann, wenn er ihn aufrichtig zum Wohle der Entwicklung aller einsetzt. - Darf er dann diesen verwalteten Besitz auch verteidigen? - Und wer sagt ihm, dass er ihn richtig verwaltet?" fragten die Weihnachtsmänner.
"Der Erfolg, den er hat", sagte der Nachtindianer, "der sagt es ihm."
"Das kann nicht sein!" riefen die Weihnachtsmänner im Chor.
"Das hieße ja, dass die kapitalistische Welt, wie sie sich z.B. heute manifestiert, gut wäre und nützlich für die Entwicklung aller! - Ausbeutung, Hunger, Zerstörung des Planeten, Krieg und religiöse Anmaßung zum Wohle aller?"
"Ja", sagte der Nachtindianer. "So ist es. - Kaum zu glauben, aber wahr! Selbst der exzessivste Missbrauch des angeblichen Besitzes führt letztlich nur zu einer solchen Unerträglichkeit und Verzerrung seiner Bestimmung, dass die Notwendigkeit der Ablösung der bisherigen Anwendung adäquat zur Vergrößerung seines Missbrauches zunimmt, weil gleichzeitig das natürliche Recht aller, alles zu besitzen, im gleichen Maße hervortritt, Kraft nehmend aus der größeren Wirklichkeit der Phänomene, welche in ihrer A- beziehungsweise Multipersonalität den Begriff des Besitzes nicht kennt. Dieses elementare Recht entlädt sich im Umsturz oder der Revolution, nicht nur, um das negative Übergewicht auszugleichen und so neue 'Besitzverhältnisse' herzustellen, die wiederum allen nützen, sondern um uns beizubringen, was Besitz im tiefsten Grunde bedeutet: nichts - wenn er nicht ewig ist und alles umfasst."
"Ha!" riefen die Weihnachtsmänner. "Das ist starker Tobak! Am besten wir behalten unsere roten Mützen gleich auf!"
"Warum nicht", sagte der Nachtindianer, "nur beim nächsten Mal gebt ihr dem Individuum innerhalb seiner nützenden und besitzverwaltenden Funktion einfach mehr Freiheit und fördert den damit verbundenen schöpferischen Zugewinn, der ja letztlich für alle da ist und den selbst das besitzhungrigste Individuum gegen seinen Willen erzeugt. Die Entwicklung fragt nicht danach, ob einer aus Gier oder aus Liebe die Glühbirne erfunden hat. Das Ergebnis alleine zählt: Licht für alle!"
"Toll!" riefen die Weihnachtsmänner begeistert. "Jeder macht, was er will, und bekommt, was er braucht. Aber wer bestimmt, was man will und wieviel jeder braucht?"
"Ich sagte euch schon", sprach der Nachtindianer, "es ist der Erfolg, der das tut, und seine Schwester, die Notwendigkeit, hilft ihm dabei."
"Dann braucht also einer, der arm ist, hungert und leidet, die Armut, den Hunger, das Leid für die eigene Entwicklung und die aller anderen?" fragten die Weihnachtsmänner ungläubig.
"Ja", sagte der Nachtindianer.
"Und ein anderer braucht den Reichtum, den Überfluss und die Dekadenz, um sich und die anderen voranzubringen?"
"Ja", sagte der Nachtindianer.
"Und was ist mit den Idealisten, den Guten, den Heiligen und den Aufopferungsbereiten und ihren sinnlosen Niederlagen und all denen, die auf die Vernunft bauten als festen Grund?"
"Sie gingen nicht weit genug und lösten nicht die Frage des Eigentumes", antwortete der Nachtindianer. "Das zeigt der Erfolg, den sie hatten."
"So wird es eine Klärung nicht geben?" fragten die Weihnachtsmänner entmutigt.
"Doch, doch", sagte der Nachtindianer. "Das ist eine beschlossene Sache. Es kommt eine Zeit und der Punkt wird erreicht, wo ein jeder es sieht und begreift, dem kausalen Gesetze folgend: Ursache sein ist wahrer Besitz, der Wirkung ist nichts zu eigen. Wer aber schuf sich selber? - Er trete vor! - Ihm will ich gehören und dienen."
So sprach der Nachtindianer.
Aber keiner der Weihnachtsmänner meldete sich, und sie schwiegen betreten, wussten sie doch, dass keiner sein eigener Herr war, ob arm oder reich.
Da lächelte der Nachtindianer und sagte, sie tröstend: "Seid, was ihr seht!"
Dann verschwand er, so, wie er gekommen war, die Weihnachtsmänner abzustauben, und der Morgen brach an, und die Sonne ging auf - im Osten natürlich.
BĀLAVAT